Markus Neuwirth
Als ob alles so klar wäre. Da schafft ein Künstler kleine Modellhäuser und kombiniert sie mit Erinnerungsstücken und Erinnerungslücken. Im ersten Moment erscheinen sie wie Mini Mundus. Oder auch nicht. Auf den zweiten Blick ist man irritiert und beginnt nach Halt zu suchen. Man schaut hin. Dann genauer, dann nochmals. Die bildgewandten Betrachtenden wandern detailverliebt von einem Eck zum anderen und erschließen eine Welt, die von assoziativen Ketten geprägt ist. Plötzlich kommen Geschichten hoch, und man ertappt sich dabei, Sentiment hineinzuprojizieren. Als ob man zuerst sieben Jahre keine Zeile Text gelesen hätte, der Sprache fast verlustig gegangen ist, und dann, anstatt zu schreiben, die Botschaft mit den Brocken der Wahrnehmung sinnlich zu übermitteln versucht. Historische, visuelle Zitate erschweren dem breiteren Publikum den Zugang. Verführerisch werden Formen der Kunstgeschichte eingearbeitet und das Fachpublikum ertappt sich dabei, kennerschaftlich die transformierten Werke zu erkennen.
Die Qualität von Christoph Raitmayrs Arbeiten liegt in der schleichenden Eroberung von Räumen, deren Lage und Dimension anders erwartet werden. Eine Autobahn rast durch die Ecke eines Galerieraums. Mit einem Schlag verlieren sowohl die Straße als auch der Ausstellungsort ihre Koordinaten. Das Durchbrechen der Naturnachahmung und das Einbeziehen der Präsentationsebene hebeln die logischen Verhältnisse aus. Gerade die geometrische Grundstruktur der Werke verführt, nach Ordnung zu suchen, die einem im nächsten Moment gnadenlos genommen wird. Ein Bett ist zu sehen; daneben ein kleines Haus. Oder auch nicht. Ist das nun das zu große Spielhaus eines Kindes oder soll die Lage des Bettes in dem Haus simultan gezeigt werden? Die Dinge werden räumlich doppelt oder sogar mehrfach codiert und setzen beim Betrachter ein Decodierungsspiel in Gang. Der Vorgang der Perzeption, der nicht zu beenden ist, bringt den nächsten Aspekt auf den Plan: Zeit. Das Mustern der Wahrnehmungsinseln verbraucht einen Augenblick nach dem anderen – wortwörtlich zu nehmen. Sehen, Schauen, Begreifen, Verwerfen, Wiederaufnehmen, Konstruieren und Dekonstruieren erzeugen von selbst eine Zeitspur, die bei jedem Betrachter und jeder Betrachterin unterschiedlich sein wird. Messerscharf und mathematisch penibel sind die einzelnen Details getrennt – offensichtlich mit dem Lineal gezogen – und trotzdem schlägt es einem die Beine des sicheren Standpunkts weg. Man arbeitet sich von einer Ebene zur anderen vor. Der Faktor Zeit erfährt eine Multiplikation. Da sind die Architekturzitate, die einen Rückgriff über Jahrzehnte oder Jahrhunderte bedeuten. Sie sind bewusst gewählt. Entweder zum Beispiel aus der Zeit der Neuen Sachlichkeit oder etwa aus der kolonialen Vergangenheit. Sodann werden Fotos oder Details von bekannteren Kunstwerken hinzugegeben, die uns in die nächste Zeitstufe versetzen. Das Ganze entwickelt sich zu verfremdeten Erinnerungsplateaus, wie sie auf Kästen oder Kaminsimsen zu finden sind. Sie erzählen eine Geschichte, die zwar vom Künstler gestartet, aber von den Besucherinnen und Besuchern des Museums oder der Galerie weitergesponnen wird. Oder auch nicht. Damit geraten die Wahrnehmungsinseln zu Reflexionsmaschinen. Durch den Projektionsvorgang ertappt man sich ständig selbst, man spiegelt sich selbst. Fast melancholisch wird man entrückt. Man gerät in eine Stimmung, die vom Verlust einer Vergangenheit zeugt. Es kommen Zweifel auf, ob man sie jemals wieder gewinnen kann. Ein älteres (Modell-)Schiff fährt scheinbar vorbei, suggeriert eine längere Reise und damit den Abschied von nahen Personen. Die Wahrnehmungsinseln sind zugleich Verlustzonen.
Raitmayr profiliert sich darüber hinaus als Architekt der unmöglichen Architektur. Da werden Konstruktionen fabuliert, die niemals real umzusetzen sind. Schon bei der Annäherung an die Objekte merkt man, dass da wohl etwas nicht stimmen kann. Der Versuch wird in Gang gesetzt, hier einen konkreten Bauplan – den gibt es allerdings für das Kunstwerk, will heißen für das Nichtmodell eines Hauses – hinein zu interpretieren. Überlegen wir Wegverläufe, Eingänge, Ausgänge, Stiegen, Raumfolgen usw., verlieren wir unweigerlich die Koordinaten. Oder auch nicht.
In den Kippeffekten der Nichtarchitektur schauen wir schärfer auf die architektonischen Prinzipien, und an diesem Punkt enthüllt sich wahrlich eine Qualität. Das ist jedoch ein Spiel, auf das sich die Betrachterinnen und Betrachter einlassen müssen. Auch hier entpuppt sich die strenge Geometrie als Falle, weil man ihr zuerst rationale Stringenz unterstellt. Ein rotes Haus besteht aus einer Fülle von übereinander gestapelten Raumschachteln, die hell gerahmt sind – „Der liebe Gott steckt im Detail“, wie Aby Warburg in solchen Fällen gesagt hat. Das Verhältnis der Fenster zu den Raumschachteln suggeriert relativ kleine Zimmergröße. Überlegt man die dreidimensionalen Verbindungen, könnte so mancher Architekt, manche Architektin bewusstlos umfallen.
Die Nähe zur Präzision offenbart sich stringent in Raitmayrs Zeichnungen. Konzise umreißen die scharfen Linien einzelne Gebäude. Oft entdecken wir Zitate, jedoch gestörte. Der Bekanntheitsgrad bringt wieder dieses Entdeckungsspiel – gleichsam ein Rebus – auf Schiene. Irgendetwas stimmt meistens nicht. Schaulust ist eine Grundbedingung für die Neugierde, die vom Kunstwerk provoziert wird und weiter bringt. Je mehr man zweifelt, desto eher graben sich die Sinne in ein Objekt. Unabhängig von Zitaten entwickelt der Künstler Spezialräume, deren Verhältnisse bedenklich sind. Man fragt nach labil, stabil, instabil. Die Existenz sucht nach fixen Punkten. Oder auch nicht.
Einige plastische Arbeiten benützen assoziativ die berühmten, mit Drehmomenten ausgestatteten Würfel. Leidenschaftlich logistisch unterwegs will der Spieler die einzelnen Flächen auf eine gemeinsame Farbe bringen. Die Würfel in den Kunstwerken verweisen – eine weitere Facette – auf die Suche nach Komplettierung, auf die Sehnsucht nach Klarheit und Sicherheit.
Das „Oder-auch-Nicht“ als Wiederholungsrhetorik ist keine des Ungefähren, sondern der Fingerzeig auf die Unsicherheit dessen, was wir als real, als wirklich empfinden. Der Kybernetiker, Computerspezialist (einer der ersten, der über Spracherkennung gearbeitet hat), Psychologe und Philosoph Ernst von Glasersfeld hat in diesem Sinne den Begriff „Radikaler Konstruktivismus“ geprägt. Eine Kernthese ist zweifellos „Wir erfinden uns selbst“. Wenn wir miteinander kommunizieren, wissen wir gar nicht so genau, ob der andere genau dasselbe meint, ob er genau dasselbe gesehen hat, ob die Dinge allgemein genau so sind. Selbst die Mathematik ist ein Konstrukt. Im Grunde sind das mühsame Übereinkünfte, noch mehr, wenn wir es über mehrere Sprachen hinweg tun. Wenn wir mit der Nase auf die Probleme der Welterkennung gestoßen werden, sollte uns das nur gut tun.
Dass Wahrnehmungsfragen in einem selbstreferentiellen Bemühen von Kunst aufgenommen wird, hat eine lange Tradition. Nur ein Beispiel: Die japanische Künstlerin Yayoi Kusama, die seit den 60er Jahren konsequent an ihren Konzepten gearbeitet und damit Weltkunstgeschichte geschrieben hat, fokussierte auf die Entgrenzung. Sie schuf Räume mit Punkten, mit Gegenständen mit Punkten, bisweilen mit ihrem gepunkteten Körper, und das Ganze noch mit Spiegeln in die Unendlichkeit getrieben. Das Ich löst sich in diesem Ambiente auf, die Koordinaten des Subjekts verlieren sich, die Perzeption des Standorts in diesem Gefängnis der Unendlichkeit scheint nicht zu gelingen. Und das, obwohl jeder Punkt physikalisch exakt verortbar ist. Christoph Raitmayr geht künstlerisch einen anderen Weg, aber seine Konzentration auf entscheidende Fragen der Orientierung, auf die Befragung der Grundkategorien wie Raum und Zeit, Verhältnis von Künstler, Kunstwerk und Betrachter, plus dessen Erinnerung bringt die Verortung seinerseits auf die entscheidende Kippe.